Trialog 2021

Die Schrecken der Vergangenheit in der Gegenwart

Die zentrale Aufgabe der Trialog-Konferenz ist es, Verbindungen herzustellen zwischen Vergangenheit und Gegenwart mit ihren katastrophal-traumatischen und hoffnungsvollen Geschichten. Deutsche, Russen, Ukrainer, gemeinsam mit Juden, Polen, Sinti und Roma teilen eine gemeinsame Geschichte. Wenn wir als Teilnehmende unsere Familiengeschichten vor dem Hintergrund einer gemeinsamen sehr wechselvollen Geschichte austauschen, können wir voneinander Vieles lernen. So werden eigene Vorurteile, die selbstverständlich als Voraus-Urteile in den Gedankenwelten bestehen, herausgefordert und infrage gestellt. Diese Voraus-Urteile werden im Beisein des Anderen bewusst, können überprüft und verändert werden. Unbewusstes kann, wie wir wissen, nur in der Projektion im Anderen wahrgenommen und bestenfalls korrigierend-integrierend reflektiert werden.

Die psychohistorische Trialog-Konferenz fand am 16. und 17. April 2021 statt: 66 Psychotherapeut*innen aus neun Ländern – aus Deutschland, Ukraine und Russland, wenige kamen aus Belarus, Estland, Ungarn, Moldawien, Spanien und den USA -trafen sich pandemiebedingt online. Die Sprachen der Trialog-Konferenz sind Deutsch, Russisch und Ukrainisch und werden jeweils konsekutiv (unmittelbar) übersetzt.

Es geht während der Trialog-Konferenz zentral darum, in der Gruppenarbeit einen reflexiven Raum zu schaffen, der Verständigung zulässt. Dieser Raum ist als gruppal herstellbare selbstreflexive Kompetenz bzw. Mentalisierungsfähigkeit (Poscheschnik, 2012; Schultz-Venrath, 2013, S. 336 ff.) zu verstehen. Das Besondere am Übersetzen ist, dass alles Gesprochene mindestens zweimal gehört wird: vom sprechenden Teilnehmer und von der Dolmetscherin. Dadurch entstehen Zwischenräume, die den Prozess der Kommunikation verlangsamen und zugleich intensivieren. Die von allen Teilnehmenden verfolgte Übersetzertätigkeit fördert Zeit und Raum für einen gruppal und interpersonal gebildeten intrapsychisch-reflexiven Raum (Knox, 2011). Dem Gesagten wird hinterher-gedacht und das noch zu Sagende kann vorher-gedacht werden. Bedeutung emergiert; sie wird gruppal-interpersonal entwickelt. Trialogisch heißt hier, dass der Dialog zwischen zwei Seiten von einer dritten gehört, anerkannt und mit einer dritten Perspektive versehen wird.

Themen der Trialog-Konferenz im April 2021

Nach einer Eröffnung, bei der die zentrale Aufgabe und die Rahmenbedingungen benannt wurden, starteten wir mit der Großgruppe. Alle Teilnehmenden wurden eingeladen, sich zu den Themen assoziativ frei zu äußern und dabei einander zuzuhören. Meine Kollegin E. Pourtova aus Moskau und ich leiteten die Großgruppe. Kriegsgefahr zwischen zwei Gruppen, zwischen den russischen und ukrainisch Sprechenden, drängte sich als Angst und als Appell allen auf. Ein Traum mit einem toten Soldaten als Bremsstein auf der Straße wurde von einem Ukrainer erzählt. Im Traum war Krieg, Tote auf der Straße. Die Schrecken des Krieges zwischen den Staaten Russland und der Ukraine waren im Raum. Alle wussten, dass sich damit große Konflikte zwischen den NATO-Staaten und Russland verbanden. Das bedrohte auch die Stimmung und das Denken in den Gruppen. Die dritte Perspektive, die der Deutschen, der Belarussen und Ungarn war möglich. Eine vierte Perspektive wurde während einer (Groß-)Gruppensitzung ermöglicht, als die formulierten Themen und damit die Teilnehmenden befragt wurden, ob und welche Bezüge es zur Situation in der (Groß-)Gruppe gibt. Die Übertragung des Schreckens und der Ängste auf das Großgruppengeschehen im Hier und Jetzt, die Fragen, wie bedrohlich vielleicht die Gruppenleitung oder auch die Rahmenbedingungen erlebt werden, sind wichtig zur Affektregulation und zum Denken.

Es war ein Zufall, dass gerade am ersten Tag der Trialog-Konferenz der ukrainische Präsident W. Selenskyj sich mit der Bundeskanzlerin A. Merkel und dem französischen Präsidenten E. Macron genau zu dieser Frage der Kriegsgefahr traf. Eine Woche später gab es Pressemitteilungen, wonach die militärischen Manöver in Russland beendet wurden und Truppenteile wieder abzogen. Ob die Eskalationsgefahr gebannt ist?

Wie Vergangenes in die Gegenwart einbricht

Eine Kollegin, die in Kiew aufgewachsen war, berichtete von einem Erlebnis mit ihrem Großvater. Sie war etwa 9 Jahre alt. Er wollte ihr Kiew zeigen. Sie kamen an einer Touristengruppe vorbei. Plötzlich begann der Großvater am ganzen Körper zu zittern. Sie habe ihn gefragt, was mit ihm sei. Er konnte nicht gleich sprechen. Dann sagte er ihr, wenn er deutsche Stimmen höre, erinnere ihn das an Babyn Jar. In Babyn Jar ermordeten die deutsche Wehrmacht und Sondereinheiten der SS am 29. und 30. September 1941 mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder (Babyn Jar, Wikipedia, letzter Zugriff: 24.04.2021). Er habe da als kleiner Junge unter Leichen gelegen. Die Toten hätten ihn geschützt. Da er unverletzt gewesen war, habe er sich, als er keine deutschen Stimmen mehr hörte, retten können.

Die Bedeutung des kulturellen Komplexes (Kimbles und Singer, 2008) und der Großgruppenidentitäten (Volkan, 2005) war unüberhörbar. Alle sprachen von sich als Deutsche, Ukrainer, Russen, Weißrussen, Juden oder Moldawier. Weitere Differenzierungen kamen hinzu; die Zeit des Kalten Krieges ist anders in Erinnerung, je nachdem, ob jemand in der alten BRD lebte oder in der DDR. Die gesprochenen Sprachen wurden jeweils für die anderen bedeutsam. So hörte eine russische Teilnehmerin die ukrainische Sprache das erste Mal nicht nur in einzelnen Worten, sondern in langen sinnerfüllten Sätzen. Ein (West-) Deutscher konnte laut darüber nachdenken, dass er vor dieser Konferenz das Russische als böse und kalte Sprache fühlte und es sich für ihn zu einer warmen, herzlichen und sehr differenzierten Sprache gewandelt habe. Auch für einige Russen bekam das Deutsche, das auf sie zuvor fremd und rau wirkte, etwas Freundliches.

Die Schrecken der Vergangenheit anerkennen und füreinander bezeugen (Benjamin, 2019), war unsere Aufgabe. Es konnten Möglichkeiten gefunden werden, um kooperatives, Gewalt begrenzendes Denken und Handeln umzusetzen.

Fazit:

Während es sich in einer zu planenden gruppalen Psychotherapie um eine Heilbehandlung für Menschen mit krankheitswertigen psychischen Störungen handelt, stehen in der Trialog-Konferenz überwiegend Psychotherapeut*innen im Zentrum, die sich als Bürgerinnen und Bürger verschiedener Länder und Kulturen verstehen, die an der Bewusstwerdung von unbewussten (nicht gewussten, aber wirksamen) transgenerativen Traumatisierungen und ihre Auswirkungen auf die Gegenwart interessiert sind. Beschäftigung und gegenseitige Konfrontation mit schmerzhaftem und unfassbarem Leiden birgt das Potenzial für Anerkennung, Linderung der Schrecken, Schmerzen und gelegentlich zur Versöhnung.

Veranstaltung des Berliner Instituts für Gruppenanalyse, unterstützt durch D3G, DGAP, IAAP, MAAP, BGPPmP.

Literatur beim Autor: praxis@stephan-alder.com

Link zur Website: http://www.trialog-conference.org/de/

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